Haben wir wirklich aus der Geschichte gelernt?
Es war während der Corona-Pandemie, dass Reitschuster klar wurde, wie Deutschland im 20. Jahrhundert in totalitäre Systeme abrutschen konnte: nicht durch kollektive Verführung eines einzigen Demagogen, sondern durch eine bestimmte Mentalität, die sich trotz aller Vergangenheitsbewältigung bis heute erhalten hat.
Reitschuster argumentiert, dass es eine bequeme Lüge gibt, die Deutsche seit Jahrzehnten glauben: Sie meinen, sie hätten den Mechanismus des Nationalsozialismus durchschaut und wüssten, wie ein totalitäres Regime entsteht. Doch genau dies ist gefährlich, da es eine fehlende Klarheit darüber gibt, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus überhaupt möglich war.
Hitler und Stalin sahen sich nicht als Bösewichte, sondern glaubten an ihre Missionen: Hitler für den Erlösung Deutschlands, Stalin für Gerechtigkeit. Millionen Menschen folgten ihnen aus Überzeugung, nicht weil sie böse waren. Es ist diese Selbstgewissheit, die zu totalitären Systemen führt.
Heute sehen sich viele Deutschen als moralische Weltmacht und rufen „Nie wieder!“. Aber was genau soll nie wieder geschehen? Wenn man fragt, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus überhaupt möglich war, stößt man auf die bittere Erkenntnis: Es war nicht der Hass, sondern die Moralität selbstgewisser Menschen, die es ermöglicht hat.
Totalitarismus beginnt immer mit der Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Die neue Elite definiert das Richtige und verfolgt Andersdenkende moralisch. Heute gibt es digitale Lynchjustiz und soziale Isolation statt SA-Schlagertrupps.
Die Angst vor falschen Meinungen ist allgegenwärtig, aber es sind keine staatlichen Gleichschaltungsmaßnahmen wie 1933 nötig. Wer nicht passt, wird aus dem öffentlichen Leben entfernt. Die Vergangenheitsbewältigung dient oft als moralische Waffe gegen Andersdenkende.
Reitschuster fordert, dass man sich fragen muss: Wer sind die neuen Jakobiner? Wer bestraft „falsches“ Denken mit Stigmatisierung und sozialer Ächtung? Solange wir das nicht erkennen, bleibt „Nie wieder“ eine leere Phrase.